Common Law

„The Empire of Chaos and Darkness“
Krisis und Modernisierung des englischen Rechts im langen 18. Jahrhundert

Das Common Law war stets der ganze Stolz der englischen Juristen. Seit Sir John Fortescue in De laudibus legum Angliae die Überlegenheit des Common Law über das Ius commune herausgestellt hatte, galt es ihnen als das beste Recht schlechthin, „the most perfect, and most excellent, and without comparison the best, to make and preserve a Common-wealth”; mit Sir Edward Coke priesen sie es als „the most equal and most certain, of greatest antiquity, and least delay, and most beneficial and easy to be observed”. Da sich die von Coke angeführten englischen Juristen gegen den König und auf die Seite des Parlaments gestellt hatten, erschien der politische Sieg des parlamentarischen Systems über die absolutistische Prärogative der Krone auch als Sieg des Common Law, das seither als Garant politischer und bürgerlicher Freiheit galt, als autochthone, nationale Errungenschaft, Bestandteil der politischen Verfassung und Grundlage der sozialen Ordnung schlechthin.

Noch 1768 stellte Sir William Blackstone heraus, dass das altehrwürdige englische Recht die Zeitläufte bestens überstanden habe und für die Herausforderungen der neuen Zeit gut gerüstet sei: „Our system of remedial law resembles an old Gothic castle, erected in the days of chivalry, but fitted up for a modern inhabitant. The moated ramparts, the embattled towers, and the trophied halls, are magnificent and venerable, but useless, and therefore neglected. The inferior apartments, now accommodated to daily use, are cheerful and commodious, though their approaches may be winding and difficult.” Wenngleich es von Widersprüchen und Ungenauigkeiten auch nicht ganz frei sein möge, so bestehe doch kein Zweifel, dass das englische Recht vor allen anderen Rechtsordnungen eindeutig den Vorzug genieße: „The English law is less embarrassed with inconsistent resolutions and doubtful questions than any other system of the same extent and the same duration.” Nur ein halbes Jahrhundert später aber war diese Selbstzufriedenheit zutiefst erschüttert; so konnte John Austin, als er das Wintersemester 1827/28 in Bonn verbrachte, nicht umhin, das englische Recht als dem römischen weit unterlegen zu bezeichnen: „Turning from the study of the English to the study of the Roman law, you escape from the empire of chaos and darkness, to a world which seems by comparison, the region of order and light.“

Was diesen Sinneswandel ausgelöst hat, wissen wir allerdings nicht. Unklar ist, ob dies nur auf einen geänderte Wahrnehmung zurückzuführen ist oder ob sich im ausgehenden 18. Jahrhundert tatsächlich ein tiefgreifender Wandel im englischen Recht vollzogen hat. Glaubt man der englischen Rechtsgeschichte, so haben sich in dieser Zeit nur unwesentliche Veränderungen im Common Law ereignet. Auffällig an diesem Urteil ist, dass es über einen Gegenstand gefällt wurde, der nach eigenem Bekunden zu einem der am wenigsten erforschten der Disziplin gehört – haben sich die englischen Rechtshistoriker doch lange Zeit ausschließlich mit dem früh- und hochmittelalterlichen Common Law befasst, während das spätmittelalterliche und mehr noch das neuzeitliche Recht weitgehend ausgeblendet wurde. Nach wie vor gilt Sir John Bakers Diktum: „The eighteenth century remains the most neglected in English legal history.” Dies ist umso bemerkenswerter, als das 18. Jahrhundert unter englischen Historikern als das „Jahrhundert des Rechts” gilt. Dessen ungeachtet wird in der Rechtsgeschichte die Vorstellung gehegt, das von einer an Erstarrung grenzenden Stabilität geprägte Jahrhundert sei nicht interessiert gewesen an Veränderung im Recht, weder durch Gesetzgebung noch durch Richterrecht.

Hohe politische Stabilität war in der Tat eines der wichtigsten Kennzeichen des langen 18. Jahrhunderts: so sollten sich zwischen der Glorious Revolution von 1688 und den großen Reformen von 1832 keine wesentlichen verfassungsrechtlichen Änderungen mehr ereignen. Damit aber stellte es sich für die Whig-Historiographie der viktorianischen Epoche, die die englische Geschichte als die Geschichte der Herausbildung der parlamentarischen Demokratie ansah, als ein Jahrhundert des Stillstands und der Erstarrung dar, in dem alle ernsthaften Reformen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verhindert worden seien. Dieses Geschichtsbild wurde wiederum nur zu eilfertig von der neu gegründeten Disziplin der englischen Rechtsgeschichte übernommen: Nachdem schon die Historiker wiederholt von einer „Periode unwandelbarer Einrichtungen und unveränderter Gesetze” gesprochen hatten, dauerte es nicht lange, bis auch die Rechtshistoriker auf die Erklärungsmuster der Whig-Historiographie zurückgriffen und das 18. Jahrhundert als ein Jahrhundert des Stillstands auch im Recht charakterisierten.

Das lange 18. Jahrhundert zeichnete sich aber nicht nur durch politische Stabilität, sondern auch und gerade durch eine Vielzahl sozialer und ökonomischer Umbrüche aus: der kommerziellen, der finanziellen und der industriellen Revolution eben. Welche Rolle das Recht dabei spielte, ist nur unzureichend erforscht. Auch wenn ein substantieller Beitrag der englischen Rechtsgeschichte nach wie vor aussteht, hat dies Historiker, Soziologen und Politologen nicht daran gehindert, ihre respektiven Ansichten mit großer Überzeugung vorzubringen: Je nachdem, welche der unzähligen Arbeiten zur industriellen Revolution man konsultiert, wird man die Auffassung vertreten finden, dass das schon immer kaufmannsfreundliche englische Recht die Industrialisierung entschieden begünstigte, dass das aus dem Mittelalter stammende überkommene Recht die industrielle Revolution schwer behinderte, oder aber dass das Recht sich in die Belange der Wirtschaft nicht einmischte und daher für die industrielle Revolution überhaupt keine Rolle spielte. Der Mangel an gesicherten Erkenntnissen lädt regelrecht zur Spekulation ein.

Dem abzuhelfen ist das Anliegen des Forschungsvorhabens. Es versucht zu klären, ob und inwieweit sich im englischen Recht des langen 18. Jahrhunderts Veränderungen ereignet haben. Aufmerksamkeit wird dabei vor allem der Amtszeit Lord Mansfields gewidmet, des Chief Justice of England von 1756 bis 1788, der als der größte Jurist des 18. Jahrhunderts und als einer der bedeutendsten englischen Richter überhaupt gilt. Als der am längsten amtierende oberste Richter Englands übte er während der 32 Jahre seiner Richterschaft einen so bestimmenden Einfluss auf die englische Rechtsprechung aus, dass er als „Vater des Handelsrechts” gepriesen und als einer der Begründer des modernen englischen Rechts angesehen wurde; so urteilte Thomas Jefferson, es gebe keine vergleichbare Periode des englischen Rechts, in der so viele Regeln geändert worden seien wie unter Lord Mansfield: „No period of English law of what ever length it be taken, can be produced wherein so many of it’s settled rules have been reversed as during the time of this judge.” Seine Beurteilung durch die englische Rechtsgeschichte fällt indes deutlich zurückhaltender aus und hängt offensichtlich eng zusammen mit dem Bild, das sich die Disziplin von ihrem Gegenstand gemacht hat und in welches ein einschneidender Rechtswandel im 18. Jahrhundert nicht recht passen will. An der Marginalisierung Lord Mansfields zeigt sich das Scheitern der dogmen- und institutionengeschichtlich ausgerichteten englischen Rechtsgeschichte, die unbeirrt an ihren seit langem überkommenen Paradigmen festhält. Damit tritt neben die rechtshistorische eine wissenschaftsgeschichtliche Perspektive: der Blick auf die Sichtweisen der englischen Rechtshistoriker, die Beobachtung der Beobachter also, erlaubt zu sehen, was in dem blinden Fleck der englischen Rechtsgeschichte liegt.